Europäischer Gerichtshof: Fernfahrer dürfen ohne Sichtvermerk einreisen - CSU fürchtet EU-Beitritt der Türkei durch die Hintertür
Berlin - Der türkische Ministerpräsident kam zum Feiern, und er brachte eine Forderung mit: Recep Tayyip Erdogan gehörte am vorigen Samstag zur illustren Gästeschar, die Altkanzler Gerhard Schröder aus Anlass seines 65. Geburtstages nach Hannover geladen hatte. Am nächsten Tag kritisierte Erdogan vor Journalisten, dass es eine grundsätzliche Visumpflicht für Türken gebe, die nach Deutschland reisen wollten. Dies habe negative Auswirkungen auf die Fortentwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen und stelle "unlauteren Wettbewerb" dar, so Erdogan.
Doch die vom türkischen Premier attackierte Visumpflicht wackelt ohnehin. Dank europäischer Rechtsprechung können viele Türken künftig wohl ohne Visum einreisen. Anlass für diese unter Juristen und Politikern umstrittene Frage bildet ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), laut dem türkische Fernfahrer vom Visumzwang befreit sind. Deutsche Gerichte hatten zuvor auf die Visumpflicht bestanden.
Umstritten ist, ob die Straßburger Entscheidung auf andere Dienstleister übertragbar ist. Dies könne "zu einem Massenzuzug von Türken unter dem Deckmantel der Dienstleistungsfreiheit führen", warnt der Europaabgeordnete Markus Ferber (CSU). Etwas weniger alarmistisch urteilen die Polizeirecht-Experten Volker Westphal und Edgar Stoppa. Auf ihrer Homepage über "Ausländerrecht für die Polizei" schreiben sie, das Urteil gelte auch "für andere Gruppen von Dienstleistungserbringern (z.B. Geschäftsleute) und Dienstleistungsempfängern (z.B. Touristen)". Damit sei "klargestellt, dass diese türkischen Staatsangehörigen ab sofort (wieder) wie 'Positivstaater' reisen können", wenn sie "einen Aufenthalt von höchstens drei Monaten planen und keine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen oder für höchstens zwei Monate als Geschäftsreisende" kämen.
Das Bundesinnenministerium widerspricht. Das sogenannte Soysal-Urteil des EuGH betreffe nur "türkische Lastwagenfahrer, die für ein türkisches Unternehmen Dienstleistungen in Deutschland erbringen", erklärt ein Sprecher von Ressortchef Wolfgang Schäuble (CDU). Die Bundesregierung sehe "keine Notwendigkeit, denjenigen Türken Visumfreiheit zu gewähren, die zur Entgegennahme von Dienstleistungen einreisen wollen" (passive Dienstleistungsfreiheit). Das Urteil betreffe "nur die sogenannte aktive Dienstleistungsfreiheit", so der Sprecher. Mit anderen Worten: Fernfahrer ja, Touristen nein. Ob das EuGH diese Einschränkung teilt, ist ungewiss.
Mehmet Soysal, ein türkischer Lkw-Fahrer, ist der Namensgeber der Straßburger Gerichtsentscheidung. Er und sein Kollege Ibrahim Savatli hatten bis zum Jahr 2000 mehrfach Visa der Bundesrepublik erhalten, um mit türkischen Lkws Lieferungen einzuführen. Nachdem die beiden Trucker aber auch beim Fahren von in Deutschland zugelassenen Lastwagen erwischt wurden, verweigerte das deutsche Generalkonsulat in Istanbul weitere Visa. Dagegen klagten Soysal und Savatli vor dem Verwaltungsgericht Berlin.
Ihr Argument: Eine Visumpflicht hatte Deutschland für Türken erst 1980 eingeführt. Aber bereits aus dem Jahr 1963 datiert das Assoziierungsabkommen zwischen der Türkei und der EU, die damals noch EWG hieß. In einem Zusatzprotokoll von 1973 heißt es in der "Stillstandklausel" im Artikel 41, Absatz 1, die zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Abkommens gültigen Bedingungen für die Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet dürften sich nicht durch spätere Bestimmungen oder Gesetze verschlechtern. Genau dies sei aber durch die Visumpflicht von 1980 geschehen.
Die Berliner Verwaltungsrichter wiesen die türkischen Kläger ab. Das von ihnen danach angerufene Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg legte den Fall dem EuGH mit der Frage vor, wie der Artikel 41 auszulegen sei. Benötigten türkische Lkw-Fahrer tatsächlich ein Schengen-Visum, während sie "zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls sichtvermerksfrei in die Bundesrepublik Deutschland einreisen durften"?
Das EuGH entschied am 19. Februar in der Rechtssache C-228/06 eindeutig: Artikel 41 des Zusatzprotokolls sei so auszulegen, "dass er es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger ... zu verlangen, die dort Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zu jenem Zeitpunkt nicht verlangt wurde".
Sollte dieses Urteil entgegen der Zuversicht des Innenministeriums auch die "passive Dienstleistung" betreffen, wäre dem Tourismus Tür und Tor geöffnet. Eine in der Türkei geheiratete Ehefrau, die in der Heimat den Sprachtest nicht bestehen würde, könnte zu ihrem in Deutschland lebenden Mann reisen. Ob Richter in einem solchen Fall noch auf Abschiebung drängen würden, darf bezweifelt werden. Für den CSU-Europaabgeordneten Markus Weber ist daher klar: "Das 'Soysal'-Urteil belegt, dass wir einen Beitritt der Türkei zur EU durch die Hintertür erleben." Diese Entwicklung, so Weber weiter, "muss gestoppt werden".
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