Schwimmender Boulevard: Immer wieder neu errichtet, ist die Galata-Brücke über dem Goldenen Horn in Istanbul Flaniermeile und Aussichtspunkt, Verkehrsader und Basar.
Brücken verbinden. Manche nur zwei Ufer, andere bringen Welten zusammen, wieder andere sind selbst eigene Welten, manche stehen zwischen unterschiedlichen Zeiten und Epochen. Die Galata-Brücke hat von allem etwas. Zehn Minuten braucht, wer ihre 500 Meter zu Fuß zurücklegen will. Dauert es hier und da länger, bei manchem einen ganzen Tag, so liegt es daran, dass die Brücke innehalten lässt.
Nicht wegen ihres Panoramas. Eher weil sie sich als eigener Stadtteil präsentiert, als Flaniermeile mindestens. Vergleichbar vielleicht mit Hafenpromenaden anderer Metropolen, Beirut, Marseille, Havanna. Mit allen Begleiterscheinungen. Angler, oft dicht an dicht stehend, mit eigener Hackordnung. Händler, fliegende darunter, Trickbetrüger, Schuhputzer, Wahrsager, Geldwechsler unterschiedlicher Seriosität, Barmixer, Kellner – und die jeweilige Kundschaft, Zeitung lesend, plaudernd, schachernd, lachend, staunend, alles auf zwei Stockwerken.
Oben der eilige Handel neben dem Transit zu Fuß, per Auto oder Straßenbahn. Unten das Leben, das Verweilen, der Kaffee, das Sofa, der schnelle Salat, die Wasserpfeife. Angler überall, wo in Rutenweite die Fische schwimmen.
Es gibt Menschen, die hielten sich wochenlang nur auf der Brücke auf und schrieben anschließend Bücher über ganz Istanbul und seine Menschen. Es sind nicht die schlechtesten. Geert Maks "Die Brücke von Istanbul – Eine Reise zwischen Orient und Okzident“ gehört zu ihnen. Das funktioniert nicht nur wegen starker Charaktere auf der Brücke, sondern auch, weil sie jenen Geist atmet, den nur diese Stadt zwischen Abendland und Morgenland schaffen kann. Dabei liegt die Brücke nicht einmal zwischen Europa und Asien.
Der türkische Dichter und Dramatiker Nâzim Hikmet verglich die Brücke mit dem "schlanken Körper eines kleinen Vogels“, der die beiden weit geöffneten Flügel, die beiden Ufer des Goldenen Horns nämlich, verbinde. "Die Brücke ist die Hauptschlagader, die, sobald man sie kappte, das Leben auf beiden Seiten beenden würde.“ Hikmet meinte die vorige, 1992 abgerissene Brücke, doch es trifft zu auf alle Bauten an dieser Stelle.
Es war eine Herausforderung so recht nach dem Geschmack von Leonardo da Vinci. Der geniale Techniker und Visionär der Renaissance hatte im Jahr 1502 im fernen Florenz davon gehört, dass Sultan Bayezid II. eine gewaltige Brücke in Konstantinopel bauen lassen wollte. Über das Goldene Horn, den 500 Meter breiten Meeresarm, der die zwei Hälften der Hauptstadt seines Osmanischen Reiches trennte – eine expandierende, wohlhabende Weltmacht.
Eine Brücke von Istanbul nach Galata
Ein halbes Jahrhundert war es da überhaupt erst her, dass die Sultane diese Stadt eingenommen hatten: 1453, nach längerer Belagerung der Stadt, die zuvor noch von dem letzten Häuflein Byzantiner bewohnt gewesen war, als einsame abendländische Insel in der weiten muslimischen Welt. Seither etablierte sich neben dem Namen Konstantinopel ein zweiter für die Stadt, zunächst für den Teil südwestlich des Goldenen Horns: Istanbul.
Leonardo da Vinci skizzierte die Brücke aufs Papier und schickte die Zeichnung 1503 mit einem Brief an Bayezid. "Wie ich hörte, planen Sie, eine Brücke zu bauen von Istanbul nach Galata, aber Sie kommen nicht weiter, weil Sie niemand mit den nötigen Fähigkeiten finden“, brachte er sich etwas hoffärtig ins Spiel: "Ich werde sie bauen, so hoch wie einen Bogen, dass niemand bereit sein wird, darüberzuschreiten, wegen ihrer Höhe“, behauptete er, wohl nicht ganz ernst gemeint. Eine Stützweite von 240 Metern plante er, die ohne Pfeiler überwunden werden sollte.
Leonardos Pläne konnten nicht beeindrucken, womöglich war das Schreiben, das erst 1952 in Istanbul wiederentdeckt wurde, aber auch gar nicht beim Sultan angekommen. Bayezid lud als Baumeister einen anderen, ebenfalls bekannten Florentiner ein: Michelangelo Buonarroti.
Doch den hielten religiöse Vorbehalte ab. Er befürchtete, in Konstantinopel in den islamischen Glauben gezwungen zu werden. Da obendrein der Papst mit der Exkommunikation drohte für den Fall, dass Michelangelo dem Sultan seine Dienste anbieten wollte, wurde nichts aus der Reise, nichts aus der Brücke. Beide Stadthälften, die verschiedener nicht sein konnten, gesellschaftlich, religiös, wirtschaftlich, waren weiter getrennt.
Der Sultan in seinem Palast auf der südwestlichen Seite, umgeben von Moscheen, levantinischen Basaren und Harems, blieb in seiner Welt. Die andere lag gegenüber, einen halben Kilometer entfernt: Die Siedlungen der Europäer mit ihren christlichen Gotteshäusern, den Vertretungen der Handelsrepubliken, der Kaiser- und Königreiche des Abendlandes, mit den Kontoren ihrer Kaufmannschaften. Auch nach dem Fall des christlichen Konstantinopel prägten sie das Stadtbild auf dem jenseitigen, ansteigenden Ufer im Nordosten.
Dass Genies wie Leonardo und Michelangelo ins Spiel kamen, illustriert die Bedeutung des Ortes. Im siebten vorchristlichen Jahrhundert errichteten Griechen auf dem südöstlichen Ufer eine Kolonie, Byzantion. Später, unter Kaiser Konstantin, dem ersten Christenkaiser, erwuchs daraus die Hauptstadt des Römischen Reiches, daher ihr anderer Name: Konstantinopel.
Bald wucherte die Stadt aus, auch die andere Seite wurde besiedelt, vornehmlich waren es Griechen, im Mittelalter dann Venezianer, Genueser, in der Neuzeit Briten, Franzosen, Niederländer und andere Europäer, viele Juden. Noch heute kündet ihr Backstein-Trutzbau, der Galata-Turm, von dieser Internationalität.
"Galata“, der Name der Gegend um den nordöstlichen Brückenkopf, sagt, dass dort schon vor Römern und Griechen Menschen aus dem Westen ihre Wohnstadt fanden inmitten levantinischer Umgebung: die Kelten, eben "Gallier“. Der ganze Stadtteil allerdings heißt Pera übersetzt: "das Gegenüberliegende“.
Hüben das Alte, drüben die Moderne
Die Osmanen hatten auch nach der Eroberung Konstantinopels nichts gegen die Anwesenheit von Christengemeinden. Obwohl nach jener Zäsur 1453 zügig ein Exodus der Christen einsetzte, waren ein Vierteljahrhundert später schon wieder mehr als die Hälfte der Häuser von Nicht-Muslimen bewohnt. Abgesehen vom verbotenen Glockenläuten genossen sie alle Religionsfreiheit, vor allem in Galata. Noch im Jahr 1886 ergab eine Volkszählung in der ganzen Stadt 444.000 Einwohner christlichen Glaubens, 60.000 mehr als alle Muslime.
Gewiss: Beide, sowohl das alte Istanbul im Südwesten als auch Pera oder Galata im Nordosten, gehören geografisch zum europäischen Kontinent; Asien beginnt erst jenseits des Bosporus, im Osten. Dennoch sortierten sich auch auf beiden Seiten des europäischen Goldenen Horns seit jeher hüben die asiatische und drüben die europäische Gesellschaft. Hüben denn auch das Alte, drüben die westliche Moderne, wo wie selbstverständlich dann auch zunächst die Gaslaterne, später das elektrische Licht als Erstes die Straßen erhellte, während es nach Sonnenuntergang in Istanbul dunkel blieb.
Galata – mystifiziert, ersehnt und verteufelt
Das Nachtleben, das Unverschleierte, der Alkohol, das war Galata – von der gegenüberliegenden Seite aus bei den einen mystifiziert, ersehnt, bei den anderen verteufelt, als handele es sich um den Vorhof der Hölle. "Geht ein Mann nach Pera, weiß man, was er dort sucht“, zitiert Geert Mak ein altes Sprichwort.
Bezeichnenderweise geht der Bau der ersten Galata-Brücke, fast dreieinhalb Jahrhunderte nach Leonardos Gedankenspielen, einher mit den Plänen eines muslimischen Potentaten, aus seiner tradierten muslimischen Halbstadt umzuziehen in die Moderne, ins Europäerviertel. Abdülmecid (1823–1861) war es, dem als jugendlicher Sultan der Topkapi-Palast unterhalb der ehemaligen Hagia-Sophia-Kirche, die gleich nach 1453 in eine Moschee umgewidmet wurde, zu eng geworden war, zu alt, zu orientalisch. Der deshalb in einen geplanten Neubau, den Dolmabahçe-Palast in Pera, unmittelbar am Bosporus ziehen wollte.
Es war Mitte des 19. Jahrhunderts. Längst hatte sich die Elite der Osmanen in Richtung Westeuropa orientiert. Der Krimkrieg (1853–1856), der sie mit den Franzosen und Briten zusammenschloss gegen die Russen, war militärischer Ausdruck der kulturellen Ausrichtung. Der Dolmabahçe-Palast sollte das auch stilistisch nach außen präsentieren. Manche sehen in ihm ein kleines Versailles.
Abdülmecid wollte nun selbst in den "Westen“ ziehen, hinüber nach Galata. Deshalb wollte er – auf Anregung seiner Mutter – mit der Brücke die beiden Stadthälften besser verbinden, um nicht alle Brücken zu seiner Herkunft abzubrechen. 13 Jahre, von 1843 bis 1856, dauerten die Arbeiten am neuen Palast. Eine Holzbrücke sollte es sein, aus schwimmenden Pontons. 1845 begannen die Bauarbeiten, im selben Jahr noch konnten sie beendet werden.
Die Brücke verbindet – und trennt
Bald schon war die neue Verbindung nicht mehr wegzudenken, ihr Verkehrsaufkommen übertraf alle Vorstellungen. 1863 musste sie durch einen breiteren, stabileren Neubau ersetzt werden. 1875 erneut, als die erste Stahlbrücke entstand, immer noch nach dem Ponton-Prinzip.
Inzwischen zeichnete sich ab, dass die Galata-Brücke nicht nur verband, sondern auch trennte: das innere Pera vom äußeren. Abdülmecid schien dies klar gewesen zu sei. In weiser Voraussicht hatte er sein kleines Versailles am Ufer des äußeren Teiles des Bosporus anlegen lassen, ansonsten hätte ihn die Brücke von der weiten Welt abgeschnitten.
Weil der hohe Bogen zur Durchfahrt, der Leonardo vorgeschwebt hatte, nicht realisiert werden konnte, versperrte (und versperrt bis heute, abgesehen von wenigen Nachtstunden, in denen sie geöffnet ist) die Galata-Brücke den Wasserweg für alle größeren Schiffe. Das Goldene Horn ist abgeschnitten.
Und so ist es alles andere als zufällig, dass in den anderthalb Jahrhunderten seit dem Bau des Dolmabahçe-Palastes nur auf dessen Seite, der zum Bosporus offenen, viele weitere Prachtbauten entstanden, Privatschlösschen, Grandhotels, protzige Villen. Unmittelbar hinter der Brücke, am Ufer des Goldenen Horns, geht es dagegen weiter mit Fischbuden, Kleingewerbe, lärmenden Uferstraßen.
Prügeleien wegen des Brückenzolls
Seit Abdülmecids erster Brücke bis 1930 musste jeder, der die Brücke passieren wollte, Brückenzoll entrichten, auch die Fußgänger. Immer wieder gab es Ärger darüber, an den Zugängen Streitereien, Handgreiflichkeiten, Prügeleien. Immerhin, man könnte die Abgabe, ein wenig spitzfindig, damit begründen, dass man über die Brücke geradezu von einer Hemisphäre in die andere wechselt, als führe man über den Atlantik von der Alten in die Neue Welt.
Der Italiener Edmondo de Amicis, der mit seinem Buch "Constantinopoli“ eines der bekanntesten Feuilletons aus dem späten 19. Jahrhundert über die Stadt verfasste, schrieb darin, das Goldene Horn sei in Wahrheit ein Ozean: "Nachrichten von europäischen Ereignissen, die lebendig, klar, genau, tausendfach besprochen in Galata und Pera circulieren, erklingen nur wie ein fernes Echo, verstümmelt und verworren, am anderen Ufer.“
Immer wieder erwähnten Reiseberichte die Dunkelheit, in die das alte Istanbul nach Sonnenuntergang fiel, während in Pera die Straßenzüge bis zum frühen Morgen hell und einladend erleuchtet waren. Die Galata-Brücke mochte die Handelswaren, das Geld, die Menschen von einem Ufer zum anderen bringen; Orient und Okzident, hier so dicht beieinander wie sonst nirgendwo, konnte sie dennoch kaum einander näherbringen.
Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert revolutionierte den Verkehr, getrieben von elektrischem Strom, Dampf und Benzin. Eine dynamische Stadt wie Istanbul war davon betroffen, auch wenn das Osmanische Reich insgesamt im Niedergang begriffen war und man in Europa inzwischen vom "kranken Mann am Bosporus“ sprach.
Erneut ging es daher darum, die Aufnahmefähigkeit der Brücke durch einen Neubau zu erhöhen. Viele Spuren für den Kraftverkehr sollten es diesmal sein, eine gar für eine Trambahn. Und es ging auch bei dieser, der mittlerweile vierten Brücke, bereits um eine zweistöckige Konstruktion.
Istanbul war in Europa angekommen
Der Sultan hatte mit einer französischen Firma 1908 bereits einen Vertrag für den Bau abgeschlossen. Doch die rebellierenden "Jungtürken“ entmachteten ihn, und sie standen bei der wachsenden Rivalität der europäischen Mächte auf Seiten des deutschen Kaiserreichs, das seinerseits nach dem Ende der filigranen bismarckschen Diplomatie die Annäherung an die Osmanen suchte, die künftigen Verbündeten im Weltkrieg. Den Auftrag bekam daher die Maschinenfabrik Augsburg Nürnberg (MAN).
Die Brücke, die man 1912 fertigstellte, wiederum als schwimmende Konstruktion, gilt in der Geschichte dieser Übergänge als die Galata-Brücke. Einerseits, in ihren Anfangsjahren, begeisterte sie als Ausdruck der Moderne, auch der Großzügigkeit mit ihrer Breite von 42 Metern, den drei getrennten Fahrbahnen, mit den ausladenden Bürgersteigen, der Tram in ihrer Mitte, mit ihrer die ganze Nacht über andauernden Beleuchtung.
Istanbul war in Europa angekommen. Im oberen Stockwerk jedenfalls, wo der Kraftverkehr pulsierte. Unten, da blieb der Orient noch Orient, mit seinem Fluidum des großen unergründlichen Basars, der Teestuben, der Wasserpfeifen-Sitzungen. Istanbul hatte einen Boulevard erhalten. Mit Jahrmarkt-Atmosphäre, geschaffen von Künstlern und Gauklern, Scharlatanen und anderen Helden.
Gegen Ende ihres achtzigjährigen Lebens wiederum, das bis 1992 reichte, gewann sie die Herzen, nun auch der wachsenden Besucherschar aus Europa, mit ihrer Aura der vergangenen Jahrhundertwende, als der Nahe Osten näher gerückt war, kulturell, politisch, militärisch. Eine Reminiszenz an die Ära des Orientexpress, mit dem man einst ankam, und der Bagdad-Bahn, mit der es dann weiterging, in die Wüste.
Es war die Zeit, in der die Brücke von Lyrikern, Liedermachern und anderen Literaten entdeckt wurde, in der sie jeden Tag für mindestens eine Geschichte gut war in den Zeitungen, tief aus dem Leben gegriffen, Unfälle, Suizide, Mordfälle; sie wurde Kulisse für Kriminalromane.
Abschied von der alten Brücke
Es war die am längsten währende Brücke, die bislang stabilste. Aber das Ponton-Prinzip hält jede noch so feste Konstruktion in Bewegung, schiebt, hebt, senkt sie im Rhythmus von Wellen und Gezeiten. Die Techniker der Bauaufsicht schlugen Alarm, das so geliebte Bauwerk konnte den Anforderungen des Verkehrs nicht mehr genügen.
Die neue Brücke wurde gleich nebenan gebaut, wieder von einer deutschen Firma, Thyssen. Diesmal mit festen Pfeilern, flach über dem Wasser schwebend, damit das Wasser im Goldenen Horn, das durch den hermetischen Verschluss durch die Pontons umzukippen drohte, wieder eine Lebenschance bekam. Stabil wuchs sie heran, die Brücke, aber in ihrem massiven Beton gewöhnungsbedürftig, nichts für die Herzen, zunächst jedenfalls. Bald würde es gelten, Abschied zu nehmen von der alten Brücke. Im Frühling 1992 war sie fertig, die neue.
Seither lastet die alleinige Verantwortung auf der neuen Brücke, die Verantwortung für den Verkehr, für das Gemüt, die Melancholie der Menschen in Istanbul. Sie hat es schwer, der Schatten des alten Bauwerkes mit seiner achtzigjährigen Geschichte wird noch lange über ihr liegen, ihr fehlt die Patina.
Bis 2002 dauerte es, bis im Untergeschoss die Bars, Restaurants und Geschäfte vermietet waren, inzwischen ist es zum Leben erwacht. Die Angler waren da längst wieder zurück. Wie es aussieht, wird die neue Galata-Brücke weit mehr Zeit haben als die so vergänglichen vier Vorgängerinnen. Sie wird sie aber wohl auch brauchen, um die alte Popularität zu gewinnen.
Noch immer hat die Brücke die so vornehme Aufgabe, den Orient mit dem Abendland zu verbinden – was jeder erlebt, der sie überschreitet, um an ihren Enden in die Gassen einzutauchen, hüben oder drüben.
Quelle. welt.de