"Unsere Wohnung war Türkei - draußen vor der Tür begann Deutschland"Betül Licht erzählt in ihrem Buch von der seelischen Not einer jungen Türkin in Deutschland - und gibt Tausenden eine Stimme
Wenn Betül Licht nach den passenden Worten sucht, greift sie sich ab und zu in die kräftigen braunen Haare. Auf die natürlich füllige Pracht angesprochen, lacht sie und sagt: "Wissen Sie was, früher wollte ich immer blond sein und Petra heißen."
Gott sei Dank will die 53-jährige Deutsch-Türkin das heute nicht mehr. Aber es hat eine Zeit gegeben, da dachte das türkische Mädchen Betül mit den dicken braunen Haaren, das Leben in Deutschland sei einfacher, wenn man blond ist und Petra heißt. "Damals war unsere Wohnung die Türkei, und draußen vor der Tür begann Deutschland", sagt sie. Seit 20 Jahren arbeitet Betül Licht in sozial-psychiatrischen Beratungsdiensten. Auf die zwei Welten - die daheim konservierte türkische und die geächtete deutsche draußen vor der Tür - traf die Hamburgerin bei ihrer Arbeit immer wieder. Ob bei der Suchtberatung oder beim Jugendnotdienst - neben Deutschen zählten immer auch Migranten zu ihren Patienten.
Es sind diese Erfahrungen und die Briefe einer verzweifelten Freundin, aus denen Betül Licht die Geschichte ihres Buches "In meiner Not rief ich die Eule" geflochten hat. Es handelt von Fatma, die mit acht Jahren mit ihren beiden Geschwistern von den Eltern nach Deutschland geholt wird. Zuvor haben sie zwei lange Jahre bei der Großmutter in der Türkei gelebt. Die strenge alte Frau hat, so erscheint es, die Weichen gestellt für die Opferrolle, in der Fatma ihr halbes Leben gefangen bleibt.
In Deutschland bessern sich Fatmas Lebensumstände nicht: Sie darf die Wohnung kaum allein verlassen, nur den kurzen Weg zur Schule gehen, die Familienehre lastet schwer auf den Schultern des jungen Mädchens. Fatma wächst auf in einem Dschungel aus Regeln und Verboten. Stellenweise wähnt sie ihre einzige Freiheit im Freitod.
Erst als erwachsene Frau kann sie sich in langen Briefen ihrer Freundin anvertrauen, der Autorin Betül Licht. Die hat ein ähnliches Schicksal durchgemacht und mit viel Einfühlungsvermögen Fatmas Briefe kommentiert und herausgegeben. Migrationshintergrund - beim Lesen des Buchs füllt sich der Begriff plötzlich mit Leben. Mit Fatmas Leben. Betül Lichts Buch ist deshalb bemerkenswert, weil es den Blick in die türkische Familie richtet - und gleichzeitig eine Antwort liefert für Deutschland, das sich mit vielen Folgeerscheinungen der Entwurzelung konfrontiert sieht. "Bei vielen Deutsch-Türkinnen der zweiten Generation hat der Wechsel der Kulturen eine Art Traumatisierung ausgelöst", sagt sie. Ihre Generation sei geprägt von Bindungsstörungen und einer tiefen Verunsicherung. "Als ich meine Geschichte betrachtete, und dann die meiner Patienten, wurde mir klar, dass die Probleme der jungen Migranten hier begründet liegen - in der vererbten Verunsicherung, in den eingefrorenen Gefühlswelten, in der Isolation."
Betül Licht will nicht anklagen, sie will, dass sich ihre Leidensgefährtinnen versöhnen mit ihrer Familiengeschichte. Die Deutschen will sie aufmerksam machen auf den Ursprung von vielen sogenannten Integrationsproblemen. Integration, dieses Wort mag sie nicht. "Weil es alles meint und irgendwie nichts." Recht hat sie.
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