Ostanatolien ist eine touristisch unberührte Region. Jetzt soll die Gegend um die kurdisch geprägte Stadt Van und den türkis leuchtenden Vansee zu einem Reiseziel werden.
"Folgt mir!", ruft Ertuğrul Günay zur Begrüßung. Schon ist der Tourismusminister an der Journalistengruppe vorbeigeprescht, die am Burgfelsen von Van auf den hohen Besuch aus Ankara gewartet hat - und nun Schritt zu halten versucht. Die Provinz um Van, im tiefsten Ostanatolien an der iranischen Grenze gelegen, war bisher eine abgehängte Region. Das könnte sich jetzt ändern: Zum hundertsten Geburtstag der türkischen Republik im Jahr 2023 soll die verarmte 400.000-Einwohner-Stadt zur "Weltstadt" werden, wie es in einem Entwicklungspapier heißt. Oder wenigstens zu einem attraktiven Reiseziel. Zum ersten Mal luden lokale Wirtschaftsvertreter in diesem Herbst zur Van Tourismus Messe ein. Deshalb ist Ertuğrul Günay gekommen.
Der Politiker gibt sich hemdsärmelig und gut gelaunt, während er mit großen Schritten den Burgfelsen erklimmt. Es ist ein steiler und staubiger Aufstieg über kaum befestigte Trampelpfade, doch er lohnt sich: Inmitten der Braun- und Ockertöne des ostanatolischen Bodens strahlt am Fuße des Burghangs der Vansee in Farbtönen, die es mit jedem karibischen Werbeprospekt aufnehmen können. Siebenmal so groß wie der Bodensee, reicht das grünblaue Wasser bis hinter den Horizont, ist umrahmt von majestätischen Gebirgen und lässt keinen Zweifel daran, warum Türkis die Farbe der Türken heißt.
Doch nicht nur die Landschaft ist beeindruckend in dieser Gegend, um die sich einst die Weltreiche stritten. Die Burg von Van wurde vor 2800 Jahren von den Herrschern des urartäischen Reichs erbaut. Später kamen die Perser hierher, dann die Byzantiner, Seldschuken, Mongolen und Osmanen. Und heute Ertuğrul Günay, der bei seinem Aufstieg immer wieder vor den imposanten Mauern und unter alten Torbögen stehen bleibt, staatsmännisch über den See blickt und dabei stets auf den Stand der Sonne achtet. Vor dieser Kulisse und umgeben von den örtlichen Pressefotografen will der Minister ungern im Gegenlicht stehen.
Der Auftritt ist ein seltenes Spektakel in der Stadt, die dichter an Bagdad und Teheran liegt als an Ankara. Hier, im verarmten Südosten der Türkei, sind zwischen 80 und 90 Prozent der Bevölkerung Kurden - eine ethnische Minderheit, deren Existenz von der türkischen Regierung lange geleugnet worden ist. Noch heute darf die kurdische Sprache an Schulen nicht gelehrt werden. Ihr Gebrauch ist in Parlamenten ebenfalls verboten - schon einmalige Verstöße können zu Haftstrafen führen.
Über die Gesetze wacht der Regierungschef der Provinz Van, der zentral von Ankara eingesetzt wird, während die pro-kurdische Partei DTP nach den letzten Wahlen vom türkischen Verfassungsgericht verboten wurde. Im vergangenen Sommer kehrte zudem der Terror der kurdischen Guerilla-Organisation PKK zurück. Nicht nur Militärstellungen im Südosten der Türkei sind ihre Ziele, auch das Attentat in Istanbul, bei dem im Oktober 32 Menschen verletzt wurden, wird einer Splittergruppe der PKK zugeschrieben.
Mit gepanzerten Geländewagen haben Ertuğrul Günays Aufpasser deshalb die Zufahrtsstraße blockiert. Sie stehen mit Kalaschnikows bewaffnet auf umliegenden Hügeln und verscheuchen Schuljungen, die hier sonst Taschentücher und die Handarbeit ihrer Mütter verkaufen.
Der türkische Tourismusminister spricht nicht gern über die PKK. "1980 hatten wir eine Millionen Gäste in der Türkei, in diesem Jahr sind es fast 30 Millionen", sagt Günay, wenn man ihn nach den Guerilla-Kämpfern fragt. "In der Zwischenzeit hat es in Teilen unseres Landes Terrorismus gegeben. Ich glaube, dass die Türkei heute sicher ist, wovon besonders der Osten profitiert."
Aber ist die Sicherheit ausländischer Touristen in den Kurdengebieten ebenso gewährleistet, wie in den Bettenburgen der Mittelmeerküste? Günay wiegelt ab. "Was die Welt jetzt wissen muss", sagt er, "ist, welchen kulturellen Reichtum es in dieser Region gibt, wie schön der Vansee ist und dass wir hier noch im Herbst ohne Sakkos spazieren gehen können."
Danach muss der Minister weiter, zügig. Abends, bei einem alkoholfreien Gala-Dinner in der Innenstadt, gilt es eine lange und leidenschaftliche Rede auf Vans Zukunft zu halten. Bis 2023 soll die Stadt einen internationalen Flughafen bekommen, die Straßen ausgebaut werden, mindestens zwei neue Luxushotels entstehen. Es gibt viel zu tun, da bleibt wenig Zeit für müßige Fragen.
Beim Rundgang durch Van und auf begleiteten Erkundungstouren durch das Umland hört man von Fremdenführern viel über die Vergangenheit: Über die Vansee-Insel Akdamar und die dortige Kirche zum Heiligen Kreuz aus dem 10. Jahrhundert, in deren Außenwänden armenische Mönche Fresken mit Szenen aus Bibel, Alltag und Politik schlugen. Über den Friedhof von Suljuc aus dem 13. Jahrhundert, wo die ersten Moslems der Region ihre Toten nach christlichem Brauch beerdigten. Und über die imposante Burg Hoşap, die im 17. Jahrhundert an der Seidenstraße entstand und mitsamt Speicher, Kerker und Harem heute noch gut erhalten ist. Doch über das 20. Jahrhundert, eine Zeit des Leides in Van, schweigen auch die kurdischen Stadtführer.
Dann heißt es, die Zerstörung der Altstadt, welche die Kämpfe zwischen Osmanen, Russen und Armeniern im Ersten Weltkrieg nicht überstand und heute als Ruinenfeld zu besichtigen ist, läge an "Naturkatastrophen und anderen Gründen." Die Flüchtlingsströme aus den umliegenden Bergdörfern, unter denen das neu gebaute Van während des Krieges mit der PKK zum hässlichen Moloch aufbarst, seien "wirtschaftlichen und anderen Gründen" geschuldet. Wer im historischen Museum der Stadt gar nach Hinweisen auf den Völkermord an den Armeniern sucht, findet zwischen Tonscherben und jungsteinzeitlichen Kriegerdarstellungen nur Porträts mit dem stählernen Blick Atatürks.
Dessen Nachfolger in Ankara wussten bisher nicht so recht, was sie mit dem östlichen Ende ihres Landes anfangen sollten. Erst im vergangenen Jahr wurde etwa die Entwicklung des umstrittenen Ilõsu-Staudamms am Tigris gestoppt, für den laut Amnesty International die Umsiedlung von mindestens 55.000 Menschen geplant war und das antike Felsendorf von Hasankeyf unwiederbringlich im Wasser versenkt worden wäre.
In der aufgeheizten Stimmung schimpften kurdische Initiativen, der Staudamm sei ein versuchter "kultureller Genozid". Doch inzwischen scheint die türkische Regierung trotz aller anhaltenden Repressalien - dem Sprachverbot, der Tabuisierung der jüngsten Geschichte - ernsthaft bemüht um die Normalisierung der Zustände in Van und im erweiterten kurdischen Südosten.
Im Juli wurden über hundert Jugendliche frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen, die wegen der Teilnahme an pro-kurdischen Protesten teils mehrjährige Haftstrafen absaßen. Im September durfte in der Inselkirche auf Akdamar erstmals ein christlicher Gottesdienst gefeiert werden. Und Ende Oktober folgte die von Ankara unterstützte Van Tourismus Messe, provisorisch im maroden Sportstadion von Van untergebracht.
Die lokale Wirtschaft sollte sich hier von ihrer besten Seite zeigen: Neben Sanitärausstattern und Waffenhändlern warben Imker im kalten Neonlicht für Honig, der zum köstlichen Frühstück der Region gehört. Eine Hostesse trug eine der seltenen Van-Katzen durch die Gänge, eine örtliche Züchtung mit einem grünen und einem blauen Auge. Und der greise Mehmet Kusman ritzte Dreiecke in eine Wachstafel - er gehört zu den letzten Menschen, die noch die Keilschrift der Urartäer schreiben können, mit denen hier vor fast 3000 Jahren alles begonnen hat.
Vor allem Einwohner Vans waren auf die Messe gekommen, um in dem improvisierten Ambiente über die kulturelle Vielfalt ihrer Heimat zu staunen. Noch ist diese arme Region mit ihren andauernden Konflikten keine Alternative für Urlauber, die es in die komfortablen Hotels von Izmir oder Antalya zieht. Ein prominenter auswärtiger Gast trat dann doch noch auf - Ertuğrul Günay. "Kommt 2023 wieder!", rief der allgegenwärtige Tourismusminister und war schon wieder um die nächste Ecke gebogen. Es gibt noch viel zu tun.
Quelle: zeit online