In Kilikien liegen Himmel und Hölle nah beieinander
Mit seinen 200 antiken Stätten ist Kilikien im Südosten der Türkei eine Schatzkammer der Geschichte. Massentourismus und Bettenburgen gibt es hier nicht.
Winter war gestern, doch während in Deutschland der Frühling nur langsam in Gang kommt, ist er am Mittelmeer längst da. Um sich von ein paar Sonnenstrahlen verwöhnen zu lassen, muss man nicht unbedingt auf den üblichen Trampelpfaden von Mallorca & Co. wandeln. Frühling bedeutet schließlich Aufbruch. Neue Entdeckungen, neue Ziele. Zum Beispiel Kilikien, ein Landstrich in der Südosttürkei und touristisch gesehen noch ein ganz zartes Pflänzchen.
Der rund 300 Kilometer lange Küstenabschnitt zwischen Antakya, der südlichsten Stadt Anatoliens, und Anamur ist ein faszinierendes Stück ursprünglicher Türkei. Es gibt keinen Massentourismus, keine Betonburgen, kein All-inclusive.
Dafür findet der kulturinteressierte Urlauber eine wahre Schatzkammer vor, mit so viel Historie wie in kaum einer anderen Region des an sich schon geschichtsträchtigen Landes. 200 antike Stätten, viele davon unentgeltlich zugänglich, sind zu besichtigen.
Davut Oguzcan lacht, als er die Reisenden in ihren dicken Mänteln am Flughafen von Hatay in Empfang nimmt: "Bei uns ist schon T-Shirt-Wetter", kommentiert er die 20 Grad. Dass es in Deutschland um diese Jahreszeit noch ziemlich kühl ist, weiß er aus eigener Erfahrung.
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Oguzcan ging als 18-Jähriger von Mersin nach Deutschland, studierte Energietechnik, wurde Manager, kam zurück in die Heimat, eröffnete ein Restaurant und rief einen Kunst- und Kulturverein ins Leben. Dann wurde er Reiseleiter - aus Überzeugung und mit Leidenschaft. Der 56-Jährige ist ein Geschenk für jeden Touristen, denn er ist ein Geschichtenerzähler, wie es sie im Orient seit jeher gibt. Einer, der Sagen und Legenden weiß und die Vergangenheit lebendig werden lässt.
Zu Korikos, der im 12. Jahrhundert erbauten Mädchenburg, die malerisch vor dem Ferienort Kizkalesi im Meer liegt, präsentiert er den interessiert Lauschenden eine anrührende türkische Dornröschen-Variante: Die Geschichte einer Prinzessin, die auf Wunsch des besorgten Vaters auf einer Burg im Meer leben musste, weil es dort keine giftigen Tiere gab. Und doch schlängelte sich eines Tages eine giftige Natter in den vom Festland gelieferten Obstkorb, und es war um die schöne Königstochter geschehen.
Ohne Kletterausrüstung kommt man nicht in die Hölle
Weiter geht es durch blühende Landschaft zur nahe gelegenen antiken Stadt Elaiussa. Hier stehen zwischen Wildtulpen und Anemonen Ruinen von Tempeln, Wohn- und Badehäusern und ein antikes Theater, das für Davut tausendmal schöner ist als das berühmte Ephesus an der stark frequentierten Ägäisküste. Der Blick vom Theater auf die Küste ist ohne Zweifel atemberaubend schön.
Weitaus beeindruckender sind allerdings die Korykischen Grotten, auch Cennet und Cehennem (Himmel und Hölle) genannt. Begrünt und lieblich die erste, 100 Meter und fast 300 Stufen geht es hinab in die Tiefe zu der kleinen Marienkapelle. Die Hölle, zum Glück kleiner als der Himmel, ist düster, Furcht einflößend und ohne Kletterausrüstung nicht zu erreichen. Aber wer will da schon hin? Die Grotten entstanden vor Millionen Jahren. Ein unterirdischer Fluss hatte ein Höhlensystem gebildet, die Decke stürzte ein und bildete zwei Trichter.
Anschaulicher ist Davuts Version. Um sich an Zeus für die Niederlage der Titanen zu rächen, vereinigte sich die Muttergottheit Gaia mit Tartaros und gebar Typhon, später Vater des Höllenhundes Zerberus - ein Ungeheuer mit Feuer speienden Schlangenköpfen, der in diesem düsteren Schlund gefangen lebte.
Einige Autominuten später kann man jedwede finsteren Gedanken vergessen und in dem kleinen Badeort Narlikuyu an einer türkisfarbenen Bucht herrlich in der Sonne sitzen. In einem der Ausflugs-Restaurants schmeckt frischer Fisch, Sütlü-Pide, ein dünnes Fladenbrot und Salat, der statt mit Essig mit Granatapfelsirup angemacht wurde.
Eine wichtige Pilgerstätte für Christen
In der Antike war Antiochia, so der frühere Name von Antakya, als zentraler Handelsplatz zwischen Asien und dem Mittelmeerraum, nach Rom und Alexandria die Metropole der damaligen Zeit und ein Schmelztiegel der Religionen und Kulturen.
Die Hauptstadt der Provinz Hatay ist eine wichtige Pilgerstätte für Christen. Denn hier entstand einst die erste christliche Gemeinde in einer Höhle am Stadtberg, wo der Apostel Petrus gepredigt haben soll. Im 11. Jahrhundert wurde von Kreuzrittern ein Kirchenportal in den Fels geschlagen. Vor dem Eingang haben sie einen imposanten Stein aufgestellt, der heute ein beliebtes Fotomotiv ist.
Das moderne Antakya am Orontes-Fluss mit seiner gesichtslosen Architektur bietet hingegen wenig Motive, außer dem archäologischen Museum mit seiner beeindruckenden Sammlung an Mosaiken. Die enge Altstadt wirkt etwas heruntergekommen, doch sieht man erste Anzeichen, wie man sich für mögliche Touristenströme aufhübscht.
Nachdem dieser entlegene Winkel an der Grenze zu Syrien jahrelang vernachlässigt wurde, spendiert die türkische Regierung inzwischen wieder etwas Geld. Der Geschäftsmann Selcuk Tokdemir hat zum Beispiel ein 100 Jahre altes Haus im traditionellen Stil wunderbar herausgeputzt. Im Innenhof gibt es eine Teestube, und man kann Spezialitäten der Region, Handarbeiten und Brettspiele kaufen. "Soterya" (Erneuerung) heißt das Projekt, das bereits preisgekrönt wurde.
Immer wieder an diesem Küstenstreifen trifft man auf Spuren der Apostel. Paulus, der Wegbereiter des Christentums, wurde als Zeltmacher Saulus in dem kleinen Städtchen Tarsus geboren. Wo heute die heilsame Paulusquelle plätschert, stand angeblich sein Geburtshaus.
In Tarsus soll Kleopatra Marcus Antonius verführt haben nach seinem Sieg bei Philippi (42 v. Chr.). An die schöne Ägypterin erinnert noch das Kleopatra-Tor aus römischer Zeit. Das alte Tarsus befindet sich fünf bis 20 Meter unter der Erde. 1993 wurde eine antike Straße zufällig beim Bau eines Geschäftshauses entdeckt. Sie war vermutlich fünf Kilometer lang, bislang sind nur 100 Meter freigelegt.
Im nahen Basar, in dem man Paulus-Reliquien aller Art erstehen kann, wird statt des üblichen schwarzen Çay (Tee) in kleinen Gläsern "Kaynar" serviert. Eine zuckersüße Tee-Spezialität aus Zimt und anderen Gewürzen, die mit gehackten Walnüssen veredelt wird.
Die nächste größere Stadt, das circa 40 Kilometer entfernte Adana, ist nicht wirklich sehenswert. Selbst ein Superlativ wie die 1998 erbaute Sabanci-Moschee, mit sechs Minaretten die größte Moschee der Türkei, ist zwar beeindruckend, aber ohne Atmosphäre.
Von den größeren Städten Kilikiens ist allein die junge Provinzhauptstadt Mersin mit 800.000 Einwohnern einen Besuch wert: Es gibt eine quirlige Innenstadt mit vielen Geschäften und wunderbaren Gewürzläden sowie eine zehn Kilometer lange Strandpromenade mit Palmen und Nachbildungen historischer Gebäude. Herrlich für einen Spaziergang am Abend nach einem zehnstündigen Sonnentag.
Ein beliebtes Souvenir aus Kilikien ist Lorbeerseife. Vor dem Kauf sollte man den Qualitätstest machen; nur wenn sich die Seife wie Samt anfühle, sei sie reich an Ölen und mache die Haut streichelzart, sagt Davut und hat dazu natürlich eine Geschichte parat: Apollo hatte sich in Daphne verliebt, die ihn nicht erhörte. Er bat Zeus um Hilfe. Als Apollo Daphne das nächste Mal umarmen wollte, verwandelte sie sich in einen Lorbeerbaum, worauf Apollo sprach: "Siehst du, du entkommst mir nicht." Er flocht aus den Blättern einen Lorbeerkranz, den künftig die Sieger tragen sollten.
Davut bekommt stattdessen einen Hut gegen die Sonne, die Temperaturen steigen im Sommer beträchtlich. Darum kommt man als Tourist auch lieber im Frühjahr.
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