Die Stadt unter dem Sand
Patara ist einmalig an der türkischen Südküste. Direkt neben dem Dorf gräbt ein Archäologe eine antike Metropole aus. Deshalb sind dem Ort Bettenburgen erspart geblieben – und der Strand ist der ruhigste und schönste im ganzen Land
Triumphierend fallen die Geländewagen in Dreier- und Fünferkolonnen in Patara ein. Und fahren doch am Dorf vorbei. Vorbei auch an den Ausgrabungsstätten, die von den Touristen nur eines Blickes gewürdigt werden, weil sie gleich an der Straße zum Meer liegen und am Wärterhäuschen deshalb zwei türkische Lira pro Person und Zugang zur Antike zu entrichten sind. Aber wer will da schon hin? Der Strand lockt – doch der Wachmann bleibt ungerührt: »Kein Geld, kein Strand!«
Jeden Tag geht das so. 1.000 bis 1.500 Besucher reisen von weit her an, aus Kalkan, Kas und Fethiye. Zahlen schließlich, baden und fahren in den Jeeps oder Minibussen ihrer Hotels wieder ab. Wundern sich allenfalls: Weshalb hier so wenig los ist – an einem Strand, bei dessen Zauber es keine Rolle spielt, dass sich die Reiseführer uneins sind, ob er nun 15, 18 oder 22 Kilometer lang ist? Weshalb es keine Surfschulen und Banana-Boats gibt, stattdessen türkische Familien auf dem Sand lagern und fröhliche Mütterchen in voller Montur auf den Wellen schaukeln? Weit hinten, am Ende des Strands, zeichnen sich die Berge ab, die wie ein Gürtel um die große Schwemmlandebene von Patara liegen. Schilder weisen darauf hin, dass an diesem Strand die unechte Karettschildkröte, Caretta caretta, ihre Eier ablegt und das Betreten nachts nicht erlaubt ist. Über riesigen Dünen reiten einsam zwei Drachen im Wind, während das Dorf unter der Sonne döst und tagsüber nicht mal aufhorcht, wenn der Muezzin sein »Allah ist groß!« in die Runde schickt.
Denn obgleich im Ort alles auf Besucher ausgerichtet ist und die Sunday Times den Strand wiederholt zum schönsten Europas (!) kürte, hat der große Tourismus Patara nie wirklich erreicht: drei Straßen, drei Lebensmittelläden, drei Dutzend kleine Pensionen und Hotels, nicht höher als die sie umgebenden Gärten aus Granatapfel- und Pfirsichbäumen. Ein staubiger Platz mit Atatürk und Flagge, den die Dolmus-Fahrer umkreisen, wenn sie ihre Kleinbusse wenden. Und wenn einer der Pensionswirte frische Eier für die Morgenomeletts braucht, schwingt er sich auf sein knatterndes Moped, fährt zum nächsten Laden die kurze Flaniermeile – an der abends die Restaurants und Bars auf Touristen lauern – einmal rauf und dann wieder runter und hat dabei fast das ganze Dorf durchmessen. Das hat 900 Einwohner und die doppelte Zahl an Gästebetten, von denen selbst in der Hochsaison nur die Hälfte belegt sind – zwei Friseure finden gerade so ihr Auskommen.
Dabei hatte Patara eine glänzende Karriere vor sich. Damals, Mitte der achtziger Jahre, als an der türkischen Südküste die Betonmischer richtig auf Touren kamen. Und hätte es seinerzeit mit den Ambitionen der Dörfler geklappt, dann wäre Patara heute wie Side oder Marmaris. Ein Ort, in den Billigtouristen zum sommerlichen All-inclusive-Happening einfallen und die Freunde des Dosenbiers den Strand und die Spielautomaten belagern. Statt Meerlandschaft ein Häusermeer mit asphaltiertem Wasserzugang und täglichem Autochaos.
»Hier kann man etwas machen«, und wenn es erst richtig los geht, dann ist er schon da – das wusste Cezmi Belik sofort, als er Patara 1988 erstmals besuchte. »Kein Tourismus weit und breit, aber diese paradiesische Landschaft.« Beliks Hotel war schnell gebaut. Wie 40 weitere Häuser, die nahezu zeitgleich entstanden und aus den Söhnen der Region umtriebige Geschäftsführer machten. Die nötigen Kredite kamen von SunMed, einem britischen Reiseveranstalter, der Patara erschließen und seine Feriengäste schicken wollte.
Ein paar Monate herrschte Goldgräberstimmung im Dorf, das sich in scheuem Abstand zum Meer, zum Triumphbogen und zu den Sarkophagen einrichtete, die seit Jahrhunderten wie grasende Ziegen unter Ölbäumen standen, dann kam die große Depression: der Baustopp für alle und für jene, die schon gebaut hatten, der Abrissbescheid. Auch Belik bekam das Papier. Noch heute ist der 48-Jährige heilfroh, dass er das Hotel so schnell eröffnet hatte, weil man sich schließlich auf einen Kompromiss einigte: Fertiges durfte bleiben, Unfertiges musste weichen oder steht noch heute als Investitionsruine herum. Direkt am Dorfrand verläuft nun die Grenze zur Schutzzone, zu der Patara vom Kulturministerium in Ankara seinerzeit erklärt wurde. Nicht mal drei Wochen vor dem Tag X hatte Belik im April 89 die ersten Gäste begrüßt.
»Es ist Zeit, die Vergangenheit hinter uns zu lassen«, sagt er heute, um dann doch von ihr zu reden. Wie so viele im Dorf. Vielleicht, weil es sie dazu drängt, mal wieder alles loszuwerden, vielleicht aber auch, weil es in Patara seit anderthalb Jahrzehnten kaum ein Gespräch gibt, in dem diese Geschichte nicht noch ihren Platz gefunden hätte: das Meer, der Strand, der Professor – die großen Hoffnungen auf schnelles Geld und weshalb es dann doch nichts wurde. »Der Professor hat uns sehr geschadet«, sagt Belik, fährt sich durchs graue Haar und rückt die Brille zurecht.
So still das Dorf daliegt, wenn er aus dem Fenster seines Hotels Dardanos schaut, so geschäftig geht es ein paar hundert Meter weiter in Richtung Strand zu. Zwei Lastkraftwagen fahren wie im Akkord, Bagger und Kräne bewegen tagein, tagaus Tonnen von Sand, Geröll und Stein. Arbeiter schachten an der breiten, mit weißen Blöcken gepflasterten Hauptstraße, die vom uralten Palmenhain und von den Bädern zum Hafen führt, vorbei an Geschäften, am antiken Rathaus und am Theater. »Eine Weltstadt mit mehr Kirchen und Tempeln als Ephesos«, nennt Fahri Isik diese Landschaft aus Schilf und Sand und Macchia, über die sich monumentale Bauten erheben.
Mit verlässlicher Regelmäßigkeit gräbt der Professor mit Lehrstuhl in Antalya hier kleine und große Sensationen aus. Einen mächtigen Wegweiser zum Beispiel, an dem sich Menschen schon vor 1.700 Jahren orientierten, als Handel und Wandel in Patara weit größer und die Beziehungen zur Welt weit enger waren als heute. Oder einen Leuchtturm, den einzigen aus der Antike, der unverändert erhalten blieb, weil die Dünen ihn bis zum Sommer 2005 konservierten. Patara war einst Hauptstadt und wichtigster Hafen des Lykischen Bundes, einer mächtigen Städtevereinigung in Kleinasien. Schon vor Christi Geburt lebten 15.000 bis 20.000 Menschen in der Stadt, wurde am Meer gebaut, bis nahezu jeder halbwegs windgeschützte Fleck besiedelt war. Hafen blieb der Ort auch unter Rom und Byzanz, bis die turmhohen Wanderdünen ihn letztlich ganz unter sich begruben und Patara im 15. Jahrhundert aufgegeben wurde.
Fahri Isik ist ein drahtiger Mann mit klugen braunen Augen und kräftigen Händen. Wer ihm durchs ausgedehnte Grabungsgelände folgt, kann im tiefen Sand kaum Schritt halten, und wer ihm zuhört, könnte glauben, der 61-Jährige sei Bauunternehmer und das goldene Zeitalter in Patara doch noch angebrochen. Mühen und Erfolge umschreibt der Archäologe gern in Lkw-Ladungen: beim Theater 1.000 Lastkraftwagen Sand bewegt; beim Rathaus 1.500 Fuhren; der Leuchtturm, ganze 4.000; bei den Thermen sind die Wissenschaftler mit 750 Touren ausgekommen. Und wer ihn dann beobachtet, wie er den Sand neugierig durch die Hände rinnen lässt, wird wissen, dass Spatenarchäologie ein feinfühliges Geschäft ist. Jeder Quadratmeter Sand wird gesiebt und untersucht, jeder Fund akribisch ausgewertet.
Chodscha, Lehrer, nennen ihn seine Mitarbeiter, für die er der Retter von Patara ist. Die vielen Studenten, die Landvermesser, die Bauhistoriker und Archäologen, selbst die Arbeiter, die in der sengenden Sonnenglut graben, rufen ihn ehrfürchtig Chodscha. Sie rücken einen Sitz in den Schatten, bringen kaltes Wasser aus einer Kühlbox und schneiden Melone auf, sobald Fahri Isik auftaucht. »Unter diesem Sand liegt nicht nur Arbeit für die nächsten 500 Jahre«, sagt er, »sondern auch unsere Vergangenheit.«
Als Isik 1981 zum ersten Mal in die Ebene von Patara kam, gab es hier weder Wege, Wasser noch Strom – dafür Sumpf und Mücken, die selbst durch die dicksten Laken stachen und gegen die kein noch so gutes Hausmittel aus Minz- und Zedernöl half. Ein Dutzend Häuser, die von Nomadenfamilien als Winterquartiere genutzt wurden, Öl- und Eukalyptuswälder und Sand, überall Sand. Die oberen Sitzreihen des Theaters ragten aus ihm heraus, ließen aber noch lange nicht erahnen, dass hier später etwas ausgegraben würde, was die berühmte Bühne von Aspendos im Vergleich wie eine Scheune aussehen lässt. Ein Triumphbogen stand da, schön und kraftvoll. Die vielen Hügel bestürmten Isiks Vorstellungskraft und Fantasie. Als der Professor nach sieben Jahren zurückkehrte, in denen er um den Schutz der Landschaft und eine Grabungsgenehmigung gekämpft hatte, war Patara bereits entdeckt und auf bestem Weg, »für immer zerstört zu werden«.
Es folgten Baustopp und Abrissverfügungen, nicht enden wollende gegenseitige Anfeindungen, es wurde geredet, wie in Patara der Wind geht – ohne Pause und von allen Seiten. Nicht miteinander, sondern übereinander. Sobald im Dorf nur ein Spaten bewegt oder eine Palme gepflanzt wurde, konterte Isik mit Klagen, um Patara zu bewahren. Wenn es im Grabungsgelände mal brannte, waren es nach Isiks Meinung die Dörfler – obwohl sie nach Kräften beim Löschen halfen. »Er hat mehr Macht als der türkische Präsident«, hieß es im Ort, weil man in ihm mehr einen Verhinderer als einen Bewahrer sah. »Ein Verrückter, der unsere Zukunft zerstört«, hörte man auch, obgleich das Dorf dann doch bleiben konnte und bald seine Nische im Schatten des großen Tourismus fand. Schon Mitte der Neunziger war im Sommer in Patara kein Bett mehr zu bekommen, sodass die Wirte ihre Gäste sogar auf den Dachterrassen einquartierten: Individualtouristen und Backpacker zumeist, die anderes wollten als ein Pauschalpaket.
Man paddelte auf dem Xanthos, der aus den Bergen durch die sattgrüne Schwemmlandebene ins Meer fließt, beobachtete Schildkröten, Reiher und Stachelschweine, liebte sich am Strand und ritt morgens über die Wanderdünen in den Sonnenaufgang. Andere gingen auf Erkundung in der Saklikent-Schlucht oder auf dem Lykischen Weg, der durchs Dorf führt. Alle zusammen feierten den Sonnenuntergang und dann die Nächte durch – erst bei Kefir und Kuttelsuppe in einem der muslimischen Restaurants, dann mit Wein, Raki und Gras im Medusa, im Lazy Frog oder bei Cezmi Belik, der längst die Zeichen der Zeit erkannt hatte und neben Hotelbetten auch Kanu-, Reit- und Wandertouren anbot.
Irgendwann blieben die Backpacker wieder weg, weil die Fernziele ferner wurden. Und seit zwei Jahren, seit die Überlandbusse von Kas nach Fethiye nicht mehr den Umweg über Patara nehmen, weil die Dolmus-Fahrer im Dorf auch etwas verdienen und die Touristen von der Fernstraße abholen wollten, kommen noch weniger Gäste. Viele hatten sich früher spontan zum Bleiben entschieden, sobald sie Patara vom Busfenster aus sahen. Das ist jetzt vorbei. »Man entdeckt nur, was sich präsentiert«, sagt Cezmi Belik.
Dem Dorf blieb die Erkenntnis, dass man im Fremdenverkehr auch anders überleben kann, aber etwas tun muss, und dass der Professor nicht an allem Schuld hat, was in der Gegenwart schief geht: Heute reden im Ort viele von Kultur- und Ökotourismus und sanftem Reisen. Sie können die guten Gründe, Teile der türkischen Südküste nicht zu mögen, alle herunterbeten und lassen den Namen Patara auf ihre Visitenkarten drucken, obwohl das Dorf eigentlich Gelemis heißt.
»In zehn, fünfzehn Jahren werden wir ihm ein Denkmal setzen, gleich neben dem Atatürks«, sagt Soner Zeybek über den Professor, während er Oliven und Tee auftischt. Auch Zeybek hatte damals den Abrissbescheid bekommen und um sein Hotel bangen müssen. Heute ist er froh und dem Professor dankbar, dass alles so gekommen ist. Die Einnahmen aus dem Tourismus reichen zwar nicht, um seine Familie zu ernähren, aber mit dem Gewächshaus und Tomatenanbau kommt Zeybek gut hin. »Wie würde es sonst hier aussehen«, fragt er sich und zählt ebenfalls auf, was Patara vom Rest der Küste unterscheidet, und das ist – von Sonne und Meer einmal abgesehen – so ziemlich alles. »Wir wären von unserer Geschichte abgeschnitten, unserer eigenen und der unseres Landes«, sagt er in seiner stillen, freundlichen Art.
Ein erfrischendes Lüftchen weht. Von der Dachterrasse überblickt Zeybek das Dorf, sieht die Häuser seiner Geschwister und zeigt, wo sein Großvater einst unter den Olivenbäumen gebaut hat. Zeybeks Familie lebt seit dem 17. Jahrhundert in der Region, seine Eltern waren noch Nomaden, die im Sommer auf der yayla , der Alm, oberhalb von Elmali in den Bergen wohnten und auf mehr als 2.000 Meter Höhe Vieh- und Feldwirtschaft betrieben. Nur in den Wintermonaten zogen sie mit ihren sieben Kindern und den Tieren in die fruchtbare Ebene von Patara. Vor 40 Jahren kam Soner zur Welt – im Winter.
Auch Arif Otlü ist hier geboren und seit anderthalb Jahren Bürgermeister. Er hat viel vor. Damit all jene, die bislang nur für einen Tag kommen, ihren Urlaub hier verbringen, will der 41Jährige auf die großen Touristikmessen gehen und in Deutschland eine Partnergemeinde finden, die »ebenfalls eng mit dem kulturellen Erbe der Menschheit verbunden ist«. Das Dorf will er herausputzen, manch zusammengezimmertes Terrassenlokal durch typisch Türkisches ersetzen, die Straßen erneuern und einige der Ruinen aus dem Jahr 89 vollenden oder abreißen lassen. Seit einem Jahr liegt sein Entwicklungs- und Bebauungsplan in Ankara zur Entscheidung, zuvor hat er ihn im Dorf diskutieren lassen. Seine erste Amtshandlung aber war, Fahri Isik aufzusuchen, einfach so, um hallo zu sagen. »Schließlich verbindet uns viel«, sagt Otlü und nennt die Zukunft als Beispiel.
Mehr als anderthalb Jahrzehnte haben sie nicht miteinander geredet, die Dorfbewohner und der Professor. Jetzt sind sie gemeinsam ein Stück gewandert, von Osten über die Hügel vorbei an der Weltstadt ins Dorf. Sie haben unterwegs gegrillt und getrunken – und ein paar Offizielle aus der Hauptstadt waren auch dabei. Soner Zeybek hat seither ein Buch von Isik mit Widmung und Arif Otlü noch mehr Verbündete. Havva Iskan, Isiks Frau und ebenfalls Archäologin, hat im Dorf einen Vortrag über die Ausgrabungen gehalten. Und bei der Power-Point-Präsentation zum Theater staunten alle über die Wiederauferstehung im Zeitraffer. Im März war es, dass sie gewandert sind, und Mitte August ist es in Patara noch immer Gesprächsthema, so wie der Regen, der im Juli niederging, ein Schauer nur, aber erstmals seit Jahrzehnten und überraschend genug, um lange davon zu zehren.
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