Geschichte vor dem Untergang
Am Eingang der sterbenden Stadt begegnet uns ein Kind. Der Junge ist ein kräftiger kleiner Kerl, vielleicht zehn Jahre alt. Seine Augenbrauen berühren sich über der Nase und lassen ihn älter aussehen, als er ist. "Blue Ridge Resort" steht auf seinem T-Shirt, darunter sind zwei Palmen vor einem Sonnenuntergang abgebildet. "Merhaba. I am Yunus", begrüßt der Junge uns und trottet neben uns her. Er wirkt ein wenig unschlüssig, wie es jetzt mit uns weitergehen soll. Vielleicht hat er auch Angst, wir könnten ihn davonscheuchen. Wir laufen die Hauptstraße entlang, vorbei an Autowerkstätten, Lebensmittelläden und Teehäusern, in denen Männer in Pumphosen sitzen. Sie trinken Çay und rauchen Kette. Uns Besuchern schenken sie keinen Blick. Ihre Konzentration ist ganz den Domino- und Rummikub-Partien gewidmet. Es ist eine Alltagsszene, wie man sie aus ganz Südostanatolien kennt. Nach ein paar Fußminuten ist die heile Welt allerdings zu Ende. Sie hört dort auf, wo das alte Hasankeyf beginnt.
Seit elftausend Jahren leben Menschen hier. In den Ruinen der Altstadt gehen Gegenwart und Vergangenheit wie selbstverständlich ineinander über. Bedrohlich ist dagegen die Zukunft. Das Tal, in dem Hasankeyf liegt, soll bald in den Fluten des gestauten Tigris versinken. Hasankeyf soll untergehen.
Vor uns hebt sich ein schlankes Minarett in den Himmel. "El Risk", sagt der Junge neben uns und scheint erleichtert, endlich etwas sagen zu können. "Ayyubid, six hundred years." Ornamente und kufisch anmutende Kalligraphien schmücken die Fassade des sandfarbenen Steins. Auf der Kuppel balanciert ein Storchennest. Im Jahr 1409 wurde die El-Risk-Moschee errichtet, für die Zeitrechnung von Hasankeyf kann man sie als eines der jüngeren Gebäude bezeichnen. Dennoch ist von dem Gotteshaus nur das Minarett erhalten geblieben.
Lautsprecher ragen über das Balkongeländer. Auch in Hasankeyf ruft der Muezzin elektrisch verstärkt zum Gebet. Yunus winkt uns zu einer bröckelnden Mauer auf der Nordseite des Moscheehofes heran. Er zeigt auf den Fluss, der sich zwanzig Meter unter uns grün und flach und träge durch sein Bett bewegt. "Tigris", sagt er und traut sich nun endlich, die große Frage zu stellen. "I am your guide? Five lira."
Yunus geht in Hasankeyf zur Schule. Er ist hier nicht das einzige Kind, das sich ein Taschengeld verdienen möchte. Viele Besucher kommen allerdings nicht nach Hasankeyf. Ein einziges Pärchen begegnet uns, offenbar sind es Amerikaner. Für die meisten Türkeitouristen liegt der Ort zu abgeschieden. Der Teil der Welt, in dem Hasankeyf liegt, ist unter Archäologen auch als der "fruchtbare Halbmond" bekannt. Hier soll der Mensch vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit gekommen sein. Mesopotamische, römische, byzantinische, seldschukische, ayyubidische und osmanische Spuren findet man in Hasankeyf. Mehr als zwanzig verschiedene Kulturen haben das heutige Aussehen der Stadt geprägt. Neun von zehn Kriterien, die die Unesco für den Status Weltkulturerbe einfordert, treffen laut einer Studie der Universität Istanbul auf Hasankeyf zu. Die Chinesische Mauer hingegen erfüllt nur fünf, das Taj Mahal eines.
Kulturelle Katastrophe
Die Türkei bemüht sich dennoch nicht, den Titel für Hasankeyf zu bekommen. Sie hat anderes vor: Die Regierung baut derzeit einige Kilometer flussabwärts den einhundertfünfunddreißig Meter hohen und zwei Kilometer breiten Ilisu-Damm. Er wird den Tigris so stauen, dass ein dreihundertdreizehn Quadratkilometer großer See entstehen wird. Das Wasser wird ein Kraftwerk speisen, das der Region Strom und dem Land mehr Unabhängigkeit von ausländischen Öllieferungen bringen soll. Auch zur Bewässerung der umliegenden Felder soll das Wasser genutzt werden. Hasankeyf aber wird in den Fluten des gestauten Tigris untergehen. Nach Berechnungen wird nur noch die Spitze des Minaretts der El-Risk-Moschee über der Wasseroberfläche liegen.
Yunus weiß das alles, genauso sein Freund Nuri, der sich bald zu uns gesellt. Weil er ein paar mehr Brocken Englisch spricht als Yunus, übernimmt er die Führung durch den Ort. Die beiden Kinder zucken traurig mit den Schultern, als wir nach dem bevorstehenden Ende der Stadt fragen. Die Bevölkerung von Hasankeyf lebt schon seit dem Jahr 1997 unter dem Damoklesschwert der großen Flut. Seitdem der Damm angekündigt worden ist, hagelt es zwar nationale und internationale Proteste: Das Projekt sei eine wirtschaftliche, ökologische, soziale und kulturelle Katastrophe, sagen Kritiker. Doch die Türkei hält daran fest. Der Bau des Damms ist bisher immer nur verschoben worden.
Dichte der Vergangenheit
Je weiter man in das Zentrum von Hasankeyf vordringt, desto stärker hat man das Gefühl, dass die Geschichte sich an diesem Ort aufgegeben hat. Die Ruinen wirken, als seien sie immer schon Ruinen gewesen. Den Spuren der Vergangenheit begegnet man in Hasankeyf in einer solchen Dichte, dass sich jener Eindruck von Zeitverwirrung einstellt, wie man ihn von Besuchen in Pompeji, Angkor oder Abu Simbel kennt. Seit Jahrhunderten scheint sich hier nichts verändert zu haben. Aus schwarzen Fensterhöhlen folgen uns die Blicke von Gespenstern. Unheimlicher noch ist das Gefühl der Zukunftslosigkeit in Hasankeyf. Über der Stadt liegen Schmerz und Melancholie.
Jetzt, im Spätherbst, ist es noch immer sehr warm. Sogar unsere kleinen Führer wischen sich den Schweiß von der Stirn. Von der El-Risk-Moschee folgen wir weiter der Hauptstraße und schlagen dann den Weg zum Fluss hinunter ein. Der Tigris ist nach diesem trockenen Sommer wenig majestätisch. Er gleicht eher einem großen Bach. An seinen Ufern ist es still und leer. Ein paar junge Männer treten aus dem Schatten der am Straßenrand liegenden Läden. Den wenigen Touristen, die hierherfinden, verkaufen sie Schmuck, mit Stadtansichten bemaltes Geschirr und Decken aus Ziegenhaar. Ein Ladenbesitzer streichelt den Kopf von Yunus, während er mit uns spricht. In Hasankeyf kennt jeder jeden, nur noch wenige tausend Menschen zählt die Stadt. In einen Ort, der dem Untergang geweiht ist, möchte niemand ziehen.
Hunde und Hühner
Wir gehen weiter. Bald türmen sich rechts und links der Straße mächtige Kalksteinfelsen auf. In den weichen Stein sind Hunderte von Höhlen geschlagen worden, die Felsen sehen deshalb aus wie riesige Schwämme. Die ersten Bewohner Hasankeyfs haben in ihnen gewohnt. Steintreppen und Galerien laufen an den Felswänden entlang. Einige der Behausungen hatten früher fließendes Wasser, andere wurden als Kirchen und Moscheen genutzt. Nuri kennt zwei Familien, die noch heute in den Höhlen leben.
Rechter Hand geht es hinauf zur Zitadelle. Wir wollen den Kindern hinterherlaufen, doch ein Pfiff hält uns zurück. "Three lira!", ruft es aus einer weißen Holzbude, die uns in dem gleißenden Licht entgangen ist. Der Aufstieg ist anstrengend. Der Pfad windet sich an Höhlen vorbei, streckenweise ist er in den Fels geschlagen. Die Höhlen sind teilweise mit Brettern verdeckt, aus manchen gackern Hühner. Ein Hund bellt, angeleint steht er einige Meter über uns auf einem Felsvorsprung. "Mad dog", sagen die Jungen und kichern.
Ungehobener Schatz
Als wir das Plateau erreichen, bietet sich uns ein wunderbarer Blick über das Tigristal und seinen Fluss. Wasservögel fliegen auf. Am Flussufer um Hasankeyf leben Tierarten, die weltweit vom Aussterben bedroht sind. Deshalb gehören auch viele Umweltaktivisten zu den Kritikern des Staudammprojekts. Je länger wir in Hasankeyf sind, desto irrwitziger erscheint uns die Vorstellung, dass man diesen Ort fluten will.
Die Mauern der Zitadelle sehen an manchen Stellen aus, als hätte ein Riese seine Faust auf sie niedersausen lassen. Überall liegen die sandfarbenen Steine herum. Auch die byzantinischen und osmanischen Gebäude sind nur noch mit großer Phantasie als solche zu erkennen. Die Jungen führen uns zum Ayyubidenpalast am äußersten Rand des Plateaus. Er hat kein Dach mehr, der reich verzierte Spitzbogen über dem Fenster lässt jedoch ahnen, wie schön er einmal gewesen sein muss. Auf einem Relief sind zwei Löwen zu sehen, zwischen ihnen wächst kufische Ornamentik. Auf manche der Behausungen sind mit weißer Kreide Nummern gemalt. Sie sind die einzigen Spuren wissenschaftlicher Erfassung, die wir entdecken können. Hasankeyf ist für Archäologen ein ungehobener Schatz. Nur ein winziger Teil der Region, die der Stausee überfluten soll, ist bisher archäologisch erschlossen worden. Zweihundertundacht Fundstätten haben Archäologen bei einer ersten schnellen Begehung ausmachen können. Bis heute wurden nur vierzehn von ihnen untersucht.
Kurden und Militär
Die Stille auf dem Plateau wird plötzlich von einem lauten Knattern durchbrochen. Ein Helikopter des türkischen Militärs gleitet im Tiefflug über den Fluss und hebt sich dann über die Zitadelle. Er beschreibt eine Kurve, wir erkennen einen Soldaten mit Maschinengewehr. Er sitzt an der offenen Tür und baumelt mit den Beinen. "Soldier, soldier", ruft Nuri und imitiert mit den Armen ein Gewehr.
Wie ist das Verhältnis zwischen den vornehmlich kurdischen Bewohnern der Stadt und dem türkischen Militär, fragen wir die beiden Jungen. Weil für eine Antwort ihr Englisch nicht ausreicht, erklären sie es uns mit Händen und Füßen. Nuri zeigt auf sich und sagt: "Kurd". Auf Yunus weisend, sagt er: "Türk". Dann schüttelt Nuri Yunus demonstrativ die Hand, lächelt dabei zu uns herüber und sagt: "Brothers".
Pistazien, Wassermelonen, Trauben
Die Stadt hat im Konflikt zwischen den Türken und den Kurden eine große symbolische Bedeutung. Für viele Kurden verkörpert sie die Größe der eigenen Kultur, eine Möglichkeit, sich der eigenen Geschichte in Stein zu vergewissern. Erst im sechzehnten Jahrhundert kamen die Osmanen hierher. Die PKK hat gedroht, den Bau des Staudammes im Notfall mit Gewalt zu verhindern. Für sie ist er ein militärisches Projekt, das ihre Rückzugsgebiete in den umliegenden Bergen überfluten soll. Gleichzeitig sieht sie in dem Damm einen Schlag gegen die kulturelle Identität ihres Volkes.
Der Ilisu-Staudamm ist Teil des immensen Südostanatolien-Projekts, mit dem die Region in die Moderne geführt werden soll. Neben der Verbesserung der Infrastruktur umfasst es den Bau von zweiundzwanzig Staudämmen, von denen zwölf schon fertiggestellt sind. Ihre positiven Auswirkungen lassen sich westlich von Hasankeyf auf den Feldern nahe Gaziantep und Sanliurfa bewundern: Seitdem sie mit gestautem Wasser bewässert werden können, hat sich der Ernteertrag vervielfacht. An der Straße, die zwischen den beiden Städten verläuft, verkaufen Händler Pistazien, Wassermelonen, Trauben, Mandeln und Feigen. In Hasankeyf reicht die Ernte mit knapper Not für den eigenen Bedarf.
Baracken vor der Stadt
Dennoch haben Deutschland, Österreich und die Schweiz dem Ilisu-Projekt unlängst Bürgschaften für Kredite in Höhe von vierhundertfünfzig Millionen Euro gekündigt. Als Grund nannten sie die Nichterfüllung des Auflagenkatalogs, den die Weltbank für das Projekt ausgearbeitet hatte. Unter anderem ging es um die geplante Umsiedlung von bis zu siebzigtausend Menschen. Und es ging darum, wie viel Wasser die türkische Regierung dem Tigris noch lassen würde. Der Fluss fließt entlang der syrischen Grenze in den Irak. Der fruchtbare Schlamm, den er auf seinem Weg dort einmal im Jahr an die Ufer trägt, käme an dem Beton des Staudamms nicht vorbei. Für den Irak und die in seinem Norden gelegene autonome Region Kurdistan hätte der Damm schwerwiegende Konsequenzen: rationiertes Wasser und eine neue Abhängigkeit vom Nachbarn. Einige politische Beobachter glauben, dass die Türkei die Dämme nicht aus ökonomischen, sondern aus geostrategischen Gründen baut.
Hoch über der Stadt zeigen Yunus und Nuri auf ein rosafarbenes Haus im Neubaugebiet auf der anderen Flussseite. Es ist ihre Schule. Nuri sagt, dass er später einmal studieren möchte. Ob er sich diesen Traum erfüllen kann, ist ungewiss. Viele Menschen, die bei dem Bau der anderen Dämme umgesiedelt werden sollten, hausen heute in Baracken an den ausgefransten Rändern der umliegenden Städte. Entwicklungsökonomen warnen, dass der Ilisu-Staudamm landwirtschaftlich nur kurzfristige Erfolge bieten könnte. Für eine langfristige Nutzung seien die Böden bei Hasankeyf nicht geeignet. Auch deshalb glaubt keiner der Bewohner des Ortes, mit denen wir sprechen, dass der Damm wirklich ihr Leben verbessern wird.
Friedhof unter Wasser
Bevor Yunus und Nuri sich von uns verabschieden, zeigen sie uns auf dem Plateau noch die große Moschee. Im Schatten der Ruine liegt ein Friedhof, von dem Nuri sagt: "Not so old. Three hundred years." Wind kommt auf und fährt durch das Gras zwischen den schiefen Grabsteinen. Es ist ein schöner Ort, um begraben zu werden. Bald soll er am Ufer des Sees liegen. Die Wellen werden rauschen, und Hasankeyf wird verschwunden sein.
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