In einem stillen Dorf am Bafa-See kann der Gast den türkischen Frühling genießen. Eine Wanderreise zu Flamingos und Orchideen.
Der stämmige junge Mann vor mir erstarrt mitten in der Gehbewegung und legt den Finger an die Lippen. »Wild pig!«, flüstert er. »Wildschwein, hörst du es schnaufen?« – »Nein!«, flüstere ich zurück. »So!«, sagt er leise und schnaubt demonstrativ – immer bemüht, dem Fremden »aus Europa« (wie er sagt) seine türkische Heimat recht dramatisch zu veranschaulichen. Der junge Mann heißt Mithat Serçin, er ist mein Wanderführer am Bafa-See. Im März stehen die Wege am Ufer nach den Winterregen noch unter Wasser. Deshalb plagen wir uns weiter oben durch die Macchia. Zuletzt folgten wir steil aufwärts einer Art Pfad, der mir lieber war als gar keiner, Mithat aber aus zwei Gründen misstrauisch machte: Die Route führte tief ins dornige Gestrüpp, stellenweise kamen wir nur auf allen vieren durch. Außerdem lagen immer wieder beachtliche Haufen von Dings – wie nennt das der Waidmann? –, von Dung, Losung, Exkrementen auf der Wegspur. Also ein Wildwechsel? Ich hatte gelesen, es gebe Bären in der Gegend. Droben im wilden Latmos-Gebirge, so hieß es, platzierten die Bergbauern die Bienenkästen für ihren berühmten Honig wegen der Bären auf hohe Felsen. Aber hier unten, nahe dem See, den Dörfern und Feldern und Olivengärten? Wir kehren um. Die Begegnung mit einer womöglich erzürnten einheimischen Wildsau will der Wanderführer mir nicht zumuten. Schade. Wenn da wirklich eine war, hätte ich ganz gern einen Blick riskiert. »Allein wäre ich weitergegangen«, sagt Mithat später. Es scheint ihm wichtig, das klarzustellen.
Mithat Serçin ist 25 Jahre alt, er lässt sich gerade einen schwarzen Vollbart stehen und sieht mit seinem fleischigen Gesicht und den melancholischen Augen aus wie Bud Spencers Enkel. Er ist am Bafa-See aufgewachsen, im Dorf Kapikiri, wo sein Vater ein Gasthaus betreibt; dort sind wir heute früh losgegangen. Gegen elf Uhr, nach dem Wildschwein-Dramolett, rasten wir auf einem Felsblock mit schönem Blick über den See. Der Bafa Gölü, 180 Kilometer südlich von Izmir, ist 15 Kilometer lang und knapp sechs Kilometer breit, nierenförmig streckt er sich vom Flachland im Westen bis zum Latmos-Gebirge im Osten. Einst war dieser See eine Meeresbucht. An ihrem Ostende lag die bedeutende Hafenstadt Herakleia – das heutige Bauerndorf Kapikiri. Allmählich verlandete die Bucht, in die der träge Fluss Mäander mündete, und wurde im 4. Jahrhundert zum Binnensee. Wir sitzen über dem Südufer. Der Himmel ist wolkenlos, die Frühlingssonne wärmt uns im Rücken, ohne zu stechen. Unter uns, wo die Macchia in Kulturland übergeht, leuchten sattgrün die Wiesen, von blühenden Obstbäumen weiß gesprenkelt. Auf einer nahen Halbinsel erhebt sich ein wuchtiger alter Festungsturm. »Byzantinisch«, sagt Mithat. Das Nordufer gegenüber sieht steinig aus und ist unbebaut. Links von uns, in Richtung Meer, scheint der See mit dem flachen Horizont zu verschwimmen, und wenn wir übers tiefblaue Wasser des Bafa Gölü nach rechts schauen, erkennen wir gerade noch, direkt am Fuß der braungrauen Bergkette, die dort steil aus dem See steigt, den dünnen weißen Strich des Minaretts von Kapikiri.
Hübscher Dorfname, Kapikiri! Lässt an Hahnenschrei denken, hört sich gesprochen aber ganz anders an. Im Türkischen gibt es den Buchstaben i in zwei Formen, mit Punkt und ohne. Das i mit Punkt wird lang gesprochen, das ohne wird verschluckt. Der Ortsname hat den Punkt nur auf dem ersten i; aus Mithats Mund klingt er wie »Kapíkr«. Am ganzen großen Bafa-See gibt es nicht mehr als vier kleine Dörfer. Kapikiri, 380 Einwohner, ist das einzige mit ein bisschen Tourismus, nur neun Kilometer abseits der Durchgangsstraße von Izmir nach Bodrum, gar nicht weit vom All-inclusive-Strandtourismus des türkischen Mittelmeers – und doch Welten davon entfernt. Bauernhäuschen reihen sich entlang einer steilen Dorfstraße, am oberen Ende liegt ein kleiner Platz mit der Moschee, zwei Teehäusern und zwei winzigen Lebensmittelläden, dazu übers Dorf verteilt eine Handvoll »Pansiyon« genannte Unterkünfte, in denen übers Jahr nicht mehr als ein paar Hundert Touristen absteigen. Das ist Kapikiri.
Am ersten Morgen weckten mich Hahnenschrei (siehe oben) und Esel-Iah. Aus dem rückwärtigen Badfenster meiner Pansiyon schaute ich direkt in die schönen Augen einer schmalen braunen Kuh, die vor dem angrenzenden Stall ihr Kälbchen in der Morgensonne leckte. Die Kuh brummte mütterlich, das Kälbchen wirkte hochzufrieden, eine fast kugelrunde Bäuerin in bunten Pluderhosen legte Grünzeug hin, und seither, glaube ich, ist ein erfreutes Dauerlächeln im bukolischen Kapikiri nicht mehr von mir gewichen.
Das Wasser im See ist glasklar. »Du kannst es trinken«, sagt Ümit
In Mithats Hose quakt jetzt ein Frosch. Wir sitzen immer noch auf dem Felsblock. Mithat greift in die Schenkeltasche, holt sein Handy heraus und grinst kurz zu mir herüber, als wolle er sagen: Da schaust du, Froschquaken als Klingelton! Sein Freund Ümit ist dran. Ümit soll uns später mit seinem Fischerkahn aufnehmen und über den See zurück nach Kapikiri bringen, aber bis dahin haben wir noch etliche Kilometer zu Fuß vor uns. Wir gehen weiter nach Westen und halten uns abwärts. Ich finde eine Stachelschweinborste im Gebüsch, halb schwarz, halb weiß, extrem spitz und 20 Zentimeter lang. Es ist gar nicht einfach, sie im Rucksack zu verstauen. Nachdem die Macchia hinter uns liegt, kommen wir auf Feldwegen gut voran. Anemonen und Margeriten bilden weiße Teppiche unter den Olivenbäumen, dunkelrote Blumen (Mohn?) setzen Tupfer hinein. Bienlein summen, Schwälblein zwitschern, lind geht die Luft – türkisch Frühlüng, ja, du büst’s! Manchmal schaut Mithat allerdings finster zu Boden und schimpft. Orchideenräuber! Sie graben um diese Zeit die Zwiebeln aus, die zu einem regionalen Traditionsgetränk vergoren werden. Mithat schließt sorgfältig die offenen Stellen in der Grasnarbe. Ein Dutzend Arten wilder Orchideen blüht zwischen März und Mai am Bafa Gölü, sieben von ihnen kann Mithat mir während unserer Wanderung zeigen. Er ist stolz und kennt ihre Namen, ich bin botanisch ahnungslos und überrascht, wie unprätentiös diese zierlichen Pflanzen sind. Eine öffnet in ihrer lila Blüte ein schwarz-weißes Mäulchen, eine andere trägt rote Bommelchen, alle wachsen versteckt. Ich kannte Orchideen bisher nur als eitle Solistinnen im Blumenladen, groß und knallig gezüchtet.
Von hinten nähert sich Getrappel, ein Reiter überholt uns. Es ist ein weißhaariger Mann mit Schirmkappe und abgewetztem grauem Anzug, er sitzt auf einem Sattel aus Holz und Säcken, Zügel und Steigbügel bestehen aus groben Seilen. Das Pferd ist ein kleiner, stämmiger, hübsch gelockter Schimmel, Ross und Reiter wirken ausgesprochen gut gelaunt. Bauer Abdullah Özdan, 72, ist unterwegs zu seinen Oliven, er will Triebe von gesunden alten Bäumen auf junge wild gewachsene pfropfen, oder war das umgekehrt? Mithat geht neben dem Schimmel her, redet und lacht mit dem Bauern, den er höflich »Effendi« nennt. Ab und zu übersetzt er für mich nach hinten: Eine Tochter von Herrn Özdan ist in London verheiratet, aber er selbst war dort noch nie im Leben, »natürlich nicht«. Der Hintern vom Schimmel, denke ich, ist nicht so ganz schimmelweiß, eher so ’n bisschen mistbraun. Aber dafür, Herr Özdan, ist Ihr Sakkorücken auch schön voll weißer Pferdehaare. Dann trappeln sie davon. »Es ist eine Stute«, sagt Mithat, »zwölf Jahre alt. Ich hab ihn gefragt, ob er sie verkauft.« Und? »Niemals. Aber die Frage hat ihn sehr gefreut.«
Der ganze Bafa-See und das Bauernland an seinen Ufern gehörten noch vor 35 Jahren zum Privatbesitz eines mächtigen türkischen Grundherrn. »Mein Vater war bei den Linken, die dagegen gekämpft haben«, sagt Mithat – so lange, bis Ministerpräsident Ecevit 1977 dem Besitzer das Latifundium entwand. Am Westende des Sees, wo ihn ein mit Eukalyptusbäumen bestandener Damm zum Mäander-Delta hin abschließt, wo Flamingos im Seichten staksen und die Luft schon nach Meer schmeckt, dort hat Mithat Serçin mir vor zwei Tagen den Ort Serçin gezeigt. Einst halfen da Studenten den armen Pachtbauern, heute trinken am Dorfplatz müßige Männer Tee neben einem eleganten Schwarz-Weiß-Poster von Kemal Atatürk. Dessen schwungvoll kalligrafiertes Diktum übersetzt Mithat so: »Der Dörfler ist der Herr des Landes.« Jawoll. Gut so. Wir tranken Çay mit den Männern. Später aßen wir Kokoreç, gerösteten Schafdarm, unter Männern. Irgendwann fragte ich Mithat: »Warum seh ich nie Frauen in euren Lokalen?« Er schaute mich überrascht an: »Das geht nicht, auf dem Dorf.« Dann dachte er nach und sagte: »Die Frauen haben viel zu tun.«
Ganz schwach tönt jetzt von Osten Dieseltuckern übers Wasser – Freund Ümit naht mit dem Kahn. Altes Boot, alter Motor, junger Bootsmann. Ümit ist Mitte zwanzig, er hat scharf geschnittene Züge, braune Haut und kurze schwarze Haare, so dicht und glatt wie ein Maulwurfspelz. Gegen schneidenden Wind und schaumige Wellenkronen steuert er uns über den See bis zur kleinen »Vogelinsel« nah dem Nordufer, wo Hunderte Reiher, Kraniche, Kormorane aus ihren Nist- und Wohnbäumen auffliegen. Ümit stellt den Diesel ab und ankert 30 Meter vor der Insel. Die Vögel beruhigen sich schnell, als ob sie wüssten, dass niemand ihr Refugium betreten darf. Wir picknicken schaukelnd im Kahn. Ümits Mutter hat dem Sohn drei schmalzgebackene Fladen mitgegeben, sehr gut, mit körnigem Frischkäse und Lauchzwiebeln gefüllt, einen Fladen für jeden. Sein Vater, dem das Boot gehört, ist einer der Fischer von Kapikiri. Ümit hat Steuerwesen studiert, fand bisher keinen Job und erwägt nun, ein Teehaus aufzumachen. Ümit heißt auf Türkisch Hoffnung.
Im blendenden Licht des Nachmittags tuckern wir hinüber ans menschenleere, unbewohnte Nordufer des Bafa Gölü. Ümit lässt den Kahn auf einen flachen Strand laufen, der wie eine weiße Sichel zwischen mächtigen runden Granitfelsen liegt. Das Wasser ist glasklar. »Du kannst es trinken«, sagt Ümit. Es schmeckt leicht salzig aus der hohlen Hand. 15, 16 Grad, schätze ich, man könnte baden im März... Ich lasse mich in den warmen Muschelsand fallen. Ich denke: Perfekt, Schlafsack, Feuerchen, versteckte Idylle, The Beach. Auf der Bootsfahrt zurück in Richtung Dorf kommen wir an einem halben Dutzend solcher kleinen Buchten vorbei, eine schöner als die andere. Niemand ist zu sehen, nur zwei Schafhirten winken hoch über dem Ufer. Auch im Sommer, sagt Mithat, kommt fast nie jemand hierher.
Es geht auf fünf, als wir in Kapikiri vom Kahn springen. Von allen Seiten treiben Frauen in wadenlangen Pluderhosen und Männer mit Gummistiefeln ihre Kühe heim von den Weiden. Gemächlich ziehen die Tiere die Dorfstraße hinauf und lassen ihre Fladen platschen. Ein schlanker jüngerer Mann kommt uns entgegen und grüßt freundlich. Er ist bartlos, trägt einen hellblauen Pulli und eine getönte Brille. »Das ist Abdullah Idin, unser Imam«, stellt Mithat ihn vor. Der Imam spricht Englisch. Er kommt mit auf einen Çay in die Pansiyon Agora, wo Mithats Mutter warmen, weichen Kuchen hinstellt.
Zum Sonnenuntergang gehe ich hinauf in die Felsen und schaue übers Dorf. Kapikiri, »Kapíkr«, was macht dich so magisch? Ist es der See, der jetzt golden glänzt zu deinen Füßen, ist es der Berg in deinem Rücken, der Fünffingerberg voller Höhlen, voller Geschichten, von Göttern, Räubern und Nomaden? Ist es deine jahrtausendealte Siedlungsgeschichte mit den vielen sichtbaren Spuren? Hier lebten Steinzeitmenschen, erst 1994 wurden ihre Felsmalereien entdeckt. Hier bauten Hethiter, Karer, Griechen, Römer, Christenmönche. Aus allen Epochen stehen noch Mauern, Tore, Türme; da und dort im Dorf hängt Wäsche zwischen antiken Säulenstümpfen. Vielleicht ist das dein Genius Loci: der ebenso ungenierte wie unkommerzielle Umgang mit dem kulturellen Erbe, das Fehlen von Verbotstafeln, Absperrungen, Souvenirläden, wie sie der Massentourismus gebiert.
Zwei Landschildkröten tapsen aus dem Felsenschatten ins Abendlicht
Es raschelt im Gras. Zwei Landschildkröten tapsen aus dem Felsenschatten neben meinem stillen Sitzplatz. Dann nähert sich im letzten Licht eine Rätselgestalt von oben. Trägt eine unförmige Last auf dem Rücken, hat weißblondes Haar, Fusselbart, verpflasterte Finger. Hallo, wie geht’s? Riku aus Helsinki, 22 Jahre alt, ist zum Bouldern hier. Das ist bodennahes Klettern an Blöcken und Überhängen, das Trumm auf dem Rücken heißt crash pad, eine dicke, gefaltete Schaumstoffmatte für den häufigen Fall des Falles. Riku zeltet seit zwei Wochen im Garten der Pansiyon Karia für umgerechnet zwei Euro pro Tag. WC- und Duschbenutzung inklusive. Es sei fantastisch, sagt Riku, er stehe auf und habe vor dem Zelt forty problems – womit er Boulder meint, geeignete Felsblöcke. Der Finne hat in einem Internetforum für Kletterer von Kapikiri erfahren. Im Karia logiert außer ihm ein junger Türke, der an einem Kletterführer schreibt. Und, werden danach viele kommen? Riku hebt wortlos seine mageren Schultern. »Jedenfalls gut«, sagt er dann und grinst mich von der Seite an, »dass zu deiner Zeit die Hippies dieses Paradies nicht entdeckt haben.« Okay, Riku. Da hast du wohl recht.
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